Preisträger Michael Haneke 2014

Sehr geehrter Herr Rektor, verehrte Damen und Herren,
als ich Ihre Mitteilung von der Zuerkennung des Sonning-Preises erhielt, war
ich erst mal höchst erfreut,
als ich mich im Internet darüber zu informieren begann und die Liste der
bisherigen Preisträger sah, eher eingeschüchtert,
als ich entdeckte, dass auf dieser beeindruckenden Liste auch zwei
Filmemacher waren, habe ich ein bißchen aufgeatmet.

Mit dem Rückenwind der Namen Bergman und Kieslowski kommt man sich
als Vertreter einer im Ruch des Populismus und der Oberflächlichkeit
stehenden Kunstform neben Titanen wie Albert Schweitzer, Hannah Arendt
und Karl Popper, neben Staatsmännern wie Churchill und Havel nicht ganz
so klein vor.

Der Sonning-Preis wird laut Internet für ein Werk verliehen, das die
europäische Kultur bereichert. Auch das macht es mir leichter, hier zu
sprechen – ich spreche also bloß als Vertreter des europäischen Films.
Was ist denn das – der europäische Film? Wodurch unterscheidet er sich von
dem der übrigen Welt?

Es gibt in Amerika Filmer, die man „europäisch“ nennt und die in Europa den
Löwenanteil ihrer Zuschauer finden. Denken Sie an Regisseure wie Altman,
Cassavetes, Woody Allan, den frühen Scorsese. Was macht sie europäisch?
Und es gibt unter den Europäern jene, die versuchen, Hollywood Konkurenz
zu machen. Letztere scheitern meist. Warum?

Was unterscheidet europäische Filme von amerikanischen?
Es braucht keinen pessimistischen Ökonomen für eine schnelle und leider
auch zutreffende Antwort: durch ihre wirtschaftliche Ineffizienz. Sie verkaufen
sich schlechter.

Nach der Ursache dieses Mangels gefragt, wartet ebenfalls eine schnelle
Antwort: ihre Vielsprachigkeit. Ein Film ohne englische Originalfassung hat
auf dem internationalen Markt wenig Chance.
Das indische Kino produziert zwar ohne die Weltsprache Englisch noch mehr
als Hollywood, aber 1,2 Milliarden Inder garantieren den kommerziellen
Erfolg.

Die Multikulturalität, die schöne Kehrseite und der eigentliche, enorme
Reichtum Europas, bieten kein vergleichbares Verkaufsargument.
Wenn das transatlantische Freihandelsabkommen, das seit geraumer Zeit
zwischen Europa und den USA verhandelt wird, im Sinne Amerikas
geschlossen wird, ist dem europäische Film mit der Abschaffung der
Filmförderung ohnehin der Garaus gemacht. Noch hat sich die Filmnation
Frankreich stark gemacht, dies zu verhindern. Das letzte Wort hierüber ist
aber noch lange nicht gesprochen und die Wirtschaftsgroßmacht Amerika
wird nichts unversucht lassen, die zwar kleine, aber immer noch lästige
Konkurrenz endlich doch aus der Welt zu schaffen. Im Verleihbereich hat sie
das ohnehin längst erreicht.

Die gegensätzlichen Positionen der beiden Kulturblöcke sind klar: Amerika
betrachtet den Film als Ware – deshalb sind Förderungen von Seiten eines
Handelspartners eine unzulässige Verzerrung des Wettbewerbs. Europa
sieht im Film ein Kulturgut, das es wie Theater, Oper, Museen, Orchester und
andere kulturelle Einrichtungen zu fördern und zu erhalten gilt.
Kulturpolitik ist und war immer eine innenpolitische Entscheidung. Wenn
Europa aus ökonomischem Interesse wirklich die „Kulturpolitik“ Amerikas
übernehmen will, wenn Buchpreisbindung und Filmförderung, wenn
Kunstförderung überhaupt als wirtschaftlich unangemessene Konkurrenz im
Warenaustausch von uns akzeptiert und abgeschafft werden, degenerieren
wir endlich vollends zur kulturellen Provinz des großen amerikanischen
Bruders.

Aber warum eigentlich nicht? Wodurch verdient der ohnehin schwächelnde
europäische Film Förderung? Man hat ja schon den Kohleabbau sinn- u.
endlos weitergefördert und damit Milliarden vergeudet, als längst klar war,
dass er zukunftslos geworden war. Warum? Weil man Angst hatte, der
bitteren Wahrheit ins Auge zu schauen. Warum also beim Film ähnlich mutlos
reagieren? Der Großteil der Bevölkerung sieht ohnehin lieber die
internationalen Blockbuster. Und die Notwendigkeit, Qualität für eine
Bildungselite im Massenmedium Film zu fördern, ist ein für Politiker
undankbares Geschäft. Sie gewinnen damit keine Stimmen.

Stehe ich also hier als Vertreter aussterbender Saurier, mit dem Rückenwind
der großen Namen meiner so bedeutenden Preisvorgänger, um das traurige
Zukunftslos der europäischen Filmlandschaft zu beklagen?

Ich denke, es ist sinnlos, Äpfel mit Birnen oder die Verkaufszahlen von
Lyrikbänden mit jenen von Trivialliteratur zu vergleichen. Die Wichtigkeit
eines Lyrikbandes misst sich nicht an seiner Auflage. Von Zeit zu Zeit bringt
es auch so ein Lyrikband zur Übersetzung in andere Sprachen und zu
internationaler Leserschaft. Das macht den Lyriker glücklich, denn jeder,
auch der Esoterischste, will gelesen werden, und es trägt zur Akzeptanz von
Lyrik in der Gesellschaft bei.

Wann dieser Glücksfall eintritt, ist allerdings bedauerlicher Weise weder zu
planen noch vorherzusagen. Ich denke, er tritt nur dort ein, wo das Gedicht
den Menschen ins Herz trifft. Das sagt sich leicht.

Wieviel Gedichtbände aus dem Dänischen, dem Deutschen, dem
Kroatischen werden jährlich in andere Sprachen übersetzt? Wieviel Filme
verlassen jährlich die sprachlichen Grenzen ihrer Ursprungsländer?
Der Vergleich hinkt, ich weiß. Ein Gedicht braucht seinen Dichter, Papier und
Bleistift. Beim Film ist es etwas anders.

Wenn sich aber die Gesellschaft das Kulturgut oder gar die Kunstform Film
leisten will, kommt sie nicht darum herum, sie finanziell zu stützen. Noch tut
sie das.

Was tun die Filmschaffenden dafür? Ich sagte gerade, weltweite Publikumsakzeptanz findet nur statt, wo das Herz des Rezipienten getroffen ist. Wie geht das?
Heißt das, dem Publikum das zu liefern, was es verlangt? Was verlangt es?
Film ist ein Überwältigungsmedium und die Verfertiger von Blockbustern
wissen nur zu gut, welche Verlangen befriedigt werden müssen, um zwei
Stunden die eigene Welt vergessen zu lassen.

Auch Europa hat eine beindruckende Riege von Filmschaffenden, die sich
der Befriedigung dieses Verlangens verschrieben haben.
Um nicht mißverstanden zu werden: dies ist kein Plädoyer gegen den
Mainstream.

Entertainment ist eine wunderbare Sache, ja als Erholungsraum von der
tristen Wirklichkeit gesellschaftlicher Misere sogar eine soziale
Notwendigkeit. Je größer das Unbehagen, desto dringender das Bedürfnis,
es zu vergessen, desto dringender das Bedürfnis, sich beruhigen zu lassen.
Der gesellschaftlich Machtlose braucht die Affirmation des erreichten status
quo. Diktaturen gestern wie heute wussten und wissen das zu nutzen - dazu
brauche ich nicht mal daran zu erinnern, wie erfolgreich die Filmindustrie der
Nazis war und wie wenig Sorgen sie sich um staatliche Unterstützung
machen musste.

Ist diese Affirmationsindustrie auch heute förderungswürdig? Eine Frage, die
sich Kulturpolitiker stellen sollten. Das Argument hierfür klingt
schwerwiegend: man brauche viel Milch, um Sahne zu produzieren. Aber
wenn europäische Filmproduktionen sich mit europäischen Geldern für
amerikanische Produkte einspannen lassen, sollte man zumindest diese
Frage stellen dürfen, Was ist Entertainment denn? Ist Bachs Matthäus-Passion keine
Unterhaltung?
Was unterscheidet denn handwerklich gut gemachte und famos
unterhaltende Manipulation vom Kunstwerk, von dem ich vorhin sagte, es
träfe ins Herz?

Ich und viele meiner europäischen Kollegen, wir fragen uns oft, warum uns
das Kino aus der sogenannten dritten Welt meist mehr interessiert und mehr
packt als jenes aus unserer Heimat und aus unseren Nachbarländern. Wir
lassen uns alle gern von der Opulenz des internationalen Mainstreams
zerstreuen und oft auch von seiner unleugbaren handwerklichen Perfektion
beeindrucken, aber wenn wir das Bedürfnis hegen, persönlich angesprochen
zu werden, berührt, in Frage gestellt oder gar erschüttert zu werden, ziehen
wir vor, einen Film aus dem Iran, der Türkei, aus Rumänien oder Afrika
anzuschauen. Warum?

Sind die Filmschulen dort besser oder die staatliche Förderung großzügiger?
Ich fürchte, das ist nicht der Fall.
Wovon erzählen denn diese Filme?

Sie erzählen im Allgemeinen kleine alltägliche Geschichten vom Leben und
von der Not der Menschen in diesen Ländern. Und man fragt sich oft
erstaunt: warum denn mit solcher Kraft?

Ist es wirklich bloß das Exotische, das uns daran interessiert - dass wir
Lebensformen kennenlernen, die uns wenig bis nicht bekannt waren?
Ist es nicht eher die Tatsache, dass diese Menschen versuchen, mit Hilfe
ihrer künstlerischen Mittel das Leben zu bewältigen, ein Leben das oft
geprägt ist von politischen und sozialen Problemen, dass es ihre letzte
Zuflucht ist, ihre Verteidigung, dass es ihnen auf existentielle Weise ernst ist
mit dem, was sie tun. Es fehlt ihnen der Zynismus der Zerstreuungsindustrie.
Es wäre ein Mißverständnis, daraus zu schließen, dass man politische und
ökonomische Probleme braucht, um interessante Filme zu machen oder
Bücher zu schreiben.

Aber Wohlstand macht müde und lähmt den Widerspruchsgeist. Und nie war
Europas Wohlstand größer als heute.
Wovon erzählen wir denn und für wen? Für einen Konsumenten, den uns die
Unterhaltungsprofis Amerikas und Asiens längst weggenommen haben? Für
Kinder, die süchtig nach Märchen sind? Oder für ein Du, das wir genauso
ernst nehmen, wie wir selber genommen werden wollen?
Ich glaube, dass das die Frage ist, die ich mir im Schutze finanziellen
Behütetseins stellen muß, will ich mich auch noch morgen ohne Verachtung
im Spiegel anschaun.

Wer ist das Du, an das wir uns richten? Von Kunst zu sprechen – und wir
führen dieses Wort ja nur allzu gern im Munde, um die Subvention die wir
genießen, zu rechtfertigen – von Kunst zu sprechen, ist nur dem erlaubt, der
seinen Rezipienten als autonomes, als selbstständig denkendes Wesen
akzeptiert. Als Partner auf Augenhöhe. Das große europäische Kino hat das
immer getan. Es gibt, denke ich, in aller Kunst eine Verpflichtung zur
Wahrhaftigkeit. Und – wie schon eine große österreichische Dichterin sagte:
„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“

Meine Damen und Herren, ich möchte, um meine Ausführungen
abzuschließen, eine kleine Anekdote erzählen:
Diese wunderbare Ehrung, die Sie mir heute angedeihen lassen, ist nicht das
erste Geschenk, das ich von Ihrem Land erhalte.
Vor mehr als 60 Jahren, also wenige Jahre nach dem Krieg, hat Dänemark
eine Einladung an jene Länder gesandt, die den Krieg verloren hatten. Es hat
Kinder aus den Ländern eingeladen, die sich noch kurz vorher als
barbarische Feinde gezeigt hatten, um diesen Kindern den Hunger zu
lindern. Ich war eines dieser Kinder. Im Vorschulalter, zum ersten Mal von zu
Hause weg, und dänisch nicht sprechend, war ich trotz der liebevollen
Fürsorge meiner Zieheltern sehr einsam und unglücklich. Um dieses Unglück
zu mildern führte man mich zum ersten Mal in meinem Leben ins Kino.
Ich erinnere mich noch genau: es war ein langgestreckter Saal mit seitlichen
Türen ins Freie. Der Film spielte in der afrikanischen Savanne und die Tiere
begeisterten mich über die Maßen. Dann, plötzlich, war der Film zu Ende,
das Licht ging an und die Türen auf die inzwischen nächtlich dunkle Straße
öffneten sich.

Und ich verstand nicht, wie ich so schnell aus dem sonnendurchfluteten
Afrika in den abendlichen Regen von Kopenhagen kommen konnte.
Ich hatte dieses beeindruckende und irritierende Gefühl anschließend bald
vergessen und erst sehr viel später, als ich mich mit der Wirkung von Medien
zu beschäftigen begann, fiel es mir wieder ein und ich begriff, dass in diesem
Kinoerlebnis ein ganz wichtiger Baustein meiner beruflichen Entwicklung
steckt. Ich hatte die unglaubliche Kraft der bewegten Bilder erfahren, ihre
Möglichkeit der Verzauberung wie der Entmündigung – ein Erlebnis das
heute, wo Fernsehen und Komputer schon im vorsprachlichen Alter zur
täglich erlebten Selbstverständlichkeit gehören, kaum mehr nachzuvollziehen
ist. Es hat mich darauf aufmerksam gemacht, wieviel Verantwortung von
jenen gefordert ist, die diese Bilder schaffen.

Sie haben mich also dreimal beschenkt:
einmal als Sie dem schlecht genährten Kind mit dänischer Butter auf die
Beine halfen,
einmal als Sie mich die Macht des Kinos erleben lehrten und
einmal mit der heutigen Ehrung.
Für alle drei Geschenke danke ich Ihnen aus tiefstem Herzen.