Michael Haneke -  Der Sonning Preis 2014
Universität Kopenhagen, den 18. Juni 2014

Von Peter Schepelern

Seit über einem Jahrzehnt gilt Michael Haneke als einer der Hauptvertreter der modernen Filmkunst, ein innovatorischer und kompromissloser Auteur, der sein Publikum zugleich anzieht und erschreckt. Wie kaum ein anderer österreichischer Künstler unserer Gegenwart genießt er große internationale Räsonanz.

Seine Filmkunst steht mit seiner intellektuellen Prägnanz und seine beunruhigende Analyse der modernen europäischen Wirklichkeit sehr zentral. Als eine erste kurze Charakterisierung seiner Auffassung der Aufgabe des Filmmediums könnte seine Antwort auf die berühmte Formulierung Jean-Luc Godards dienen. Nach Godard ist Film ”24 Mal die Wahrheit pro Sekunde.” Nach Haneke ist Film ”24 Mal die Lüge pro Sekunde, aber vielleicht im Dienste der Wahrheit.”

[Übersicht]
Der künstlerische Werdegang Michael Hanekes nimmt im Theater seinen Anfang. In den 60er Jahren fing er als Dramaturg an, wurde dann zu Beginn der 70er Jahre Theaterregisseur und bekam bald auch die Möglichkeit, bei Fernsehfilmen Regie zu führen. Seine 10 Fernsehfilme, die ein genauso umfassendes Werk darstellen wie seine Spielfilme, sind leider recht unzugänglich geblieben. Beispielsweise wurden sie in Dänemark noch nie ausgestrahlt – nur Das Schloss nach Kafka ist auf DVD erhältlich. Unter diesen frühen Werken ist der Zweiteiler Lemminge aus dem Jahre 1979, den Haneke nach eigenem Manuskript schuf, besonders interessant. Selbst hat Haneke diesen Film „die Urzelle meiner Arbeiten“ genannt. Hier geht es um eine Gruppe junger Menschen im Jahr 1959 und zwanzig Jahre danach. Der Film stellt ein frühes Panorama destruktiver und selbstdestruktiver Personen auf dem Weg in die Einsamkeit, Öde und bürgerliche Gleichgültigkeit dar.

Der erste Spielfilm, Der siebente Kontinent, erschien 1989, gefolgt von Benny’s Video, mit dem ihm der Durchbruch gelang, sowie 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls. Diese Filme stellen eine erschütternde Trilogie über die moderne österreichische Wirklichkeit dar, der 1997 gedrehte Funny Games, dessen Handlung sich ebenfalls in Österreich abspielt, schließt sich daran an. Danach entstand eine Reihe von Filmen in französischer Sprache, von denen Code Inconnu aus dem Jahr 2000 der erste war, gefolgt von dem aufsehenerregenden, auf dem Roman der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek basierten La pianiste, sowie Le temps du loup und Caché. Nach einer amerikanischen Fassung von Funny Games, Funny Games U.S., erschien 2009 der in Deutschland gedrehte Film Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte, der mit der Goldenen Palme in Cannes prämiert wurde, und jüngst der französische Film Amour, der sich die Goldene Palme in Cannes und den Oscar in Hollywood holte. Allein dieser Film hat 57 weitere Preise gewonnen.

[Medien und Gewalt]
In der Filmkunst Hanekes stehen zwei Themen im Vordergrund, die für eine Präsentation unumgänglich sind: Medien und Gewalt. Haneke hat sich zu beiden Themen in seinen Essays und in vielen Interviews geäußert, und diese bilden auch quasi obligatorische Schwerpunkte der unzähligen, jetzt vorliegenden akademischen und filmkritischen Artikel und Bücher über das Werk Hanekes. Mit dieser Tradition wollen wir hier auch nicht brechen.

In den Filmen von Haneke, die alle – mit einer einzigen, signifikanten Ausnahme – in der gegenwärtigen Zeit spielen, sind Medien und Gewalt zentrale Faktoren, die das Wirklichkeitsbild mitbestimmen. Insbesondere die Handlung in den früheren Filmen spielt vor dem Hintergrund der ständigen Flut der Medien von beunruhigenden Nachrichten, Krisen und Grausamkeiten. In 71 Fragmente sind die Brennpunkte Kosovo, Ulster, Somalia, Jugoslawien, Haiti – sowie der unter Pädophilie-Verdacht stehende Michael Jackson mit seinem Appell: Don’t treat me like a criminal!

Die Familie in Der siebente Kontinent sitzt am Ende vor dem weißen Rauschen des Fernsehers; die Öde der Medien ist das ultimative Omen des Untergangs. In Benny’s Video scheint der Teenager nur noch in der Lage zu sein, sich zur Wirklichkeit als einer Art Medienprodukt zu verhalten, wobei seine eigenen Handlungen erst dann wirklich werden, nachdem sie durch die Medialisierung der Videokamera gelaufen sind. Die Medien drängen sich auf, sind aber gleichzeitig eine Art Abschirmung gegen die Wirklichkeit, eine isolierende Schicht von Uneigentlichkeit. In Funny Games schlägt das Handlungsgeschehen unerwartet eine hoffnungsvolle Richtung ein – die sich leider als eine Art Medienillusion herausstellt und gebrochen wird, als eine der Personen mit Hilfe der Fernbedienung den Film rückwärts laufen lässt. In Code Inconnu hat der vom jugoslawischen Bürgerkrieg heimgekehrte Fotojournalist einen Mechanismus erstellt, mit dem er heimlich Porträts von Alltagsmenschen in der Metro aufnehmen kann; in La pianiste guckt die Hauptperson pornographische Filme in der Videokabine an, um ihr sadomasochistisches Verlangen zu reizen; und in Caché scheinen die mystischen Videobänder, die das Handlungsgeschehen ankurbeln, die Medien als eine überwachende, drohende Instanz zu symbolisieren, eine fast metaphysische, die Welt heimlich beherrschende Macht.

Im Filmwelt Hanekes ist die Welt generell ein düsterer Ort, in dem destruktive Kräfte immer wieder, die anscheinend geordnete, zivilisierte Oberfläche zu durchbrechen drohen. Mit gnadenloser Sachlichkeit zeigen uns die Filme den Zusammenbruch. In Le temps du loup ist es der Zusammenbruch von Zivilisation und Gesellschaft in einer nicht näher definierten postapokalyptischen Situation; in Der siebente Kontinent, Benny’s Video und Funny Games geht es um den Zusammenbruch der Familie; in La pianiste und Amour steht der Zusammenbruch des Individuums im Mittelpunkt.

Das ist nicht gerade eine Filmkunst, die sich beim Zuschauer einschmeichelt.  Haneke hat es selbst so formuliert: „Wenn Film eine Kunstform sein soll, dann muss sie versuchen, der Wahrheit nahe zu kommen. Und dieser Versuch von Wahrhaftigkeit geht damit einher, Unangenehmes aufzudecken. Das Angenehme wird im Kino ohnehin ununterbrochen behauptet.“

Man darf wohl sagen, dass es Haneke gelungen ist, uns mit dem Unbehagen zu konfrontieren. Das Unbehagen in der Kultur, könnte man mit Freuds Begriff vielleicht sagen. Die Gewalt ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Sie ist permanent als eine verborgene Unterströmung zugegen, die mit furchterregender Plötzlichkeit mitten in die Normalität einbricht wie eine Bestätigung der diskreten Gewalttätigkeit der Bourgeoisie.

In Der siebente Kontinent rottet die Familie sich selbst aus – und zwar mit systematischer Gründlichkeit. In der dokumentarischen Fernsehcollage Nachruf für einen Mörder bringt ein junger Mann seine schlafenden Eltern und vier weitere Menschen um, ehe er Selbstmord begeht. In Benny’s Video folgt ein junger Mann einer plötzlichen Eingebung und tötet ein zufällig anwesendes junges Mädchen. In 71 Fragmente erschießt ein junger Mann willkürlich mehrere Menschen in einer Bank, ehe er sich selbst tötet. In Der Kopf des Mohren, der von Haneke allerdings nur geschrieben ist, geht es um einen Familienvater, dessen Wahnsinn mit einer eigenen, nicht mehr aufzuhaltenden Konsequenz eskaliert. In Code inconnu, in dem die Gewalt in den Straßen schwelt, gibt es einen Film im Film, in dem ein Immobilienmakler eine Frau in die Gefangenschaft lockt (der Film entstand noch bevor die Öffentlichkeit von ähnlichen Fällen aus der Wirklichkeit in Kenntnis gesetzt wurde). In La pianiste verstümmelt und ersticht sich Erika. In Le temps du loup wird der Familienvater aus heiterem Himmel getötet. In Caché schneidet sich Majid die Kehle durch. Und in Hanekes Inszenierung von Mozarts Don Giovanni an der Opéra Paris 2006 ist die Hauptperson eher ein Gewalttäter als ein Verführer, der am Schluss aus dem offenen Fenster des Bürohauses hinausbefördert wird.

In dem Film Das weiße Band, der in der Zeit kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielt, wird das norddeutsche Dorf von rätselhaften, gewalttätigen Ereignissen heimgesucht. Wenn dies auch nicht eindeutig gezeigt wird – bei Haneke ist nichts eindeutig – richtet sich der Verdacht immer mehr gegen die Kinder und die Jugendlichen. Die ganze Kinderschar, die auf unterschiedliche Weise der totalitären, patriarchalischen Autorität unterliegt, ist wie eine Zeitbombe, die den Countdown zur Katastrophe begonnen hat. Wir sehen sie da in Reih und Glied die Dorfstraße hinuntergehen wie eine Rachetruppe im Wilden Westen.

Die in unseren eigenen zivilisierten Bereich hineinbrechende Gewalt stellt ein Thema dar, das Haneke in Funny Games und in dessen Neufassung expliziter als sonst durchspielt. Wenn Haneke einen Film mit dem Wort Funny im Titel macht, weiß man irgendwie schon intuitiv, dass da mit dem Schlimmsten zu rechnen ist. Es geht tatsächlich auch um zwei junge Männer, anscheinend nette Jungen aus der Oberschicht, die eine zufällig ausgewählte Familie foltern und erschlagen. Verwandt sind sie mit den Upper-Class-Jungs Leopold & Loeb aus den 20er Jahren der USA, die quasi experimentell gemordet haben (Hitchcocks The Rope basiert auf dem Fall); sie treten jedoch auch als eine Art diabolische Komödianten hervor, als absurde Possenmacher à la Pinter und Beckett, jedoch in mörderischer Absicht.

Haneke hat sich dafür entschieden, diesen äußerst unangenehmen Film zweimal zu machen, obgleich wir als Zuschauer von diesem Film nicht unbedingt eine Wiederholung in einer fast identischen Neufassung wünschen, wenn wir uns nach der ersten Fassung kaum noch erholt haben. Anscheinend aber liegt Haneke viel daran, die Mediengewalt sozusagen zum Tatort zurückkehren zu lassen. In der amerikanischen Fassung von Funny Games kehrt die Gewalttätigkeit, die schon immer im amerikanischen Film ein Unterhaltungsfaktor war, als Heimsuchung zurück. Dazu sagt Haneke, dass Funny Games kein gewalttätiger Film ist, sondern ein Film über die Gewalttätigkeit im Film. Es ist der Versuch, den Reiz der Gewalt abzumontieren, um den Zuschauer einen Spiegel seiner eigenen Gewalttätigkeit vorzuhalten – Stanley Kubrick hat in A Clockwork Orange einen ähnlichen Versuch unternommen.

Damit verglichen ist Hanekes jüngster Film, Amour, der mit seinem Oscar auch sein größter Publikumserfolg geworden ist, fast das, was die Amerikaner einen feel good movie nennen, allerdings ist die Einstufung des Films auf der dänischen DVD-Ausgabe als „romantisches Drama“ so ziemlich daneben. Zurecht oder zu Unrecht, ist Amour als ein Zeichen dafür gesehen worden, dass Haneke mit den Jahren versöhnlicher, sanfter und vergebender geworden ist. Unmittelbar könnte man wohl denken, dass dieser Film mit seiner bewegenden Geschichte und seinem starken Humanismus von einem gewalttätigen Film weit entfernt ist. Dennoch handelt auch dieser Film von einem der schrecklichsten Erfahrungen, die man als Mensch machen kann: Das langsame Schwinden der Persönlichkeit und der menschlichen Würde durch die Demenz.

[Europäische Kunstfilme]
Michael Haneke hat mit seiner ästhetisch äußerst originellen und scharfsinnigen Behandlung dieser schwierigen Themen einen großen Beitrag zur europäischen Kunstfilm geleistet, den wir heute würdigen.  

Vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert hatte der europäische Kunstfilm seinen entscheidenden Durchbruch. Charakteristisch für die damalige Einstellung zum Potenzial des Filmmediums ist eine Erklärung des Literaturgiganten der Epoche, Thomas Mann, den Haneke als „bis heute mein Lieblingsautor“ bezeichnet hat. Dieser sagte 1954, ein Jahr vor seinem Tod, über den Film: er „ist etwas neben der Kunst, steht oft als rohe Sensation tief unter ihr und vereinigt sich in seinen glücklichsten Fällen auf faszinierende Weise mit ihr, tritt wirklich in ihre Sphäre ein – ungeachtet der Wahrheit, dass seine Wirkungen, in ihrer photographischen Realität, mehr von denen der Wirklichkeit, des unmittelbaren Lebens behalten, als die Kunst, welche ein strengeres, distanzierendes, kühleres Medium ist.“

Mann war sicher kein großer Kenner des Filmmediums, das er vorwiegend als „Unterhaltungsmacht“ verstand. Umso interessanter dürfte die Feststellung sein, dass der nachfolgende Umbruch des europäischen Films im Laufe der 60er Jahre – vertreten durch Fellini und Antonioni, durch Bresson, Resnais und Godard, durch Bergman und Tarkovskij – gerade den Film als „ein strengeres, distanzierendes, kühleres Medium“ einsetzt. Eben in dieser Tradition ist die Filmkunst von Haneke zu verstehen, denn hier herrschen unbestreitbar auch Strenge, kühle Beobachtung und distanzierte Erzählereinstellung.

Der europäische Kunstfilm kann als Konfrontation mit der welterobernden Gefallsucht und trostreichen Dramaturgie Hollywoods verstanden werden. Die hollywoodsche Filmerzählung erzählt sich selbst. Bei Haneke dagegen spüren wir sozusagen die Anwesenheit eines Zeremonienmeisters. Das ist Filmkunst mit einem deutlichen Absender. Auch wenn diese Erzählergestalt unsichtbar ist, erkennt man sie mit dem inneren Blick unmittelbar als distinguierter, älterer Herr mit einem scharfen, mitunter strafenden Blick. Es operiert hier eine heimliche Instanz, die uns auf eine Führung in eine Zone begleitet und uns dort erlaubt, einige Dinge zu sehen, uns aber den Blick auf andere verwehrt. Einiges ist sichtbar, das Wichtigste in der Regel aber verborgen. Genauso wie in der Wirklichkeit.

Wo der traditionelle Mainstreamfilm eine holistische Welt darstellt, in der die Kausalität herrscht und die Dinge logisch und vernünftig miteinander verbunden sind, da verkörpert der Kunstfilm à la Haneke einen Blick in eine in Details und Fragmente zersplitterte Welt, ein Universum drohender Instabilität. Der Stil ist neutral, realistisch und sachlich. In allen früheren Filmen schaltet Haneke als besonderes ästhetisches Wirkungsmittel eine Trennung der einzelnen Sequenzen ein und zwar mit einigen Sekunden schwarzen Films. In dieser Weise gestalten sich die einzelnen Szenen per se als eigene signifikante Aussagen, ohne jede eindeutige Kausalität, geschweige denn Plotcharakter – und bieten somit eine Art symbolischen Sinn, den wir zu entziffern haben.

In Der siebente Kontinent werden uns einzelne Fragmente der Wirklichkeit angeboten: Wecker, Hausschuhe, Zahnbürsten. Die Gesichter sehen wir aber nicht: Schuhe werden geschnürt, Kaffee gekocht, Aquarienfische gefüttert, das Auto fährt – die automatische Garagentür öffnet und schließt sich. Dies ist eine Art Enzyklopädie der materiellen – und materialistischen – Welt.

Eine ähnliche Tendenz sehen wir in der Fernsehverfilmung von Kafkas Das Schloss. Der von Kafka nicht vollendete Text wurde in einen eher kohärenten Roman in der zuerst gedruckten Fassung von Max Brod verarbeitet, Haneke aber verwendet die später erschienene Originalfassung und betont dabei das Fragmentarische. Erneut sind die Szenen durch schwarze Zwischenräume voneinander getrennt und Haneke beendet seinen Film wie Kafka seinen Text – mitten in einem unabgeschlossenen Satz … Die Welt ist und bleibt ein Fragment.

[Leerstellen]
Am Ende eines Hollywood-Films ist in der Regel mit einiger Sicherheit zu erwarten, dass die Welt vor dem Untergang gerettet wird, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, und dass die Liebe gewinnt. Dazu haben wir nun mal Hollywood, um uns dies zu versichern. Und so war das schon immer. Der berühmte Citizen Kane enthüllt, warum das letzte Wort des alten Mannes „Rosebud“ ist, obwohl Orson Welles es selber als „rather dollar-book Freud“ bezeichnet hat. Hitchcock beendet Psycho mit einer Art psychiatrischer Vorlesung zur Analyse des Falles Norman Bates, damit alle es begreifen. Das ist, was die Amerikaner Closure nennen – das erlösende, alles erklärende Ende.

Nicht so bei Haneke. Er zeigt uns Handlungen, Vorfälle, Szenen – zeigt, statt erklärt. Unsere Schlüsse müssen wir selber ziehen, die Erklärungen selber finden, die Lücken selber ausfüllen.

In den 1970er Jahren war es eine ziemliche Offenbarung, als der deutsche Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser auf die vielen Leerstellen in den Romanen, die die Leser selber ausfüllen müssen, aufmerksam machte:

„Das Verschwiegene in scheinbar trivialen Szenen und die Leerstellen in den Gelenken des Dialogs stimulieren den Leser zu einer projektiven Besetzung des Ausgesparten. Sie ziehen den Leser in das Geschehen hinein und veranlassen ihn, sich das Nicht-Gesagte als das Gemeinte vorzustellen. Daraus entspringt ein dynamischer Vorgang, denn das Gesagte scheint erst dann wirklich zu sprechen, wenn es auf das verweist, was es verschweigt.“

Iser verweist hier auf die Romane von Jane Austen und Virginia Woolf. Es trifft aber auch für Hanekes Filme zu, weil er sich eben dessen sehr bewusst ist, was zu erzählen ist, und insbesondere was zu verschweigen ist.

Bei Haneke häufen sich die Leerstellen in unserem Bewusstsein an, also die vielen offenen Fragen, die stets an uns nagen. Haneke ist ein Meister im Zurückhalten von Auskünften.

Was ist der Grund dafür, dass das Ehepaar in Der siebente Kontinent gemeinsam mit ihrer Tochter in den Tod geht? Warum erstattet Benny in Benny’s Video Anzeige gegen seine Eltern – und was wird sich daraus ergeben? Wer wird in 71 Fragmente getötet? Und der Ehemann in Amour, der seine Liebestat verübt und die versiegelte Wohnung verlassen hat – wo ist er? Was ist ihm widerfahren?

Es kommt nie zu einer Klärung, nie zu einer Bestimmtheit. Denn dies ist die Kunst des Erzählens nach dem Prinzip der Unbestimmtheit. In Caché, wo sich das Verdrängte in unheimlicher Weise erneut einstellt, werden zwar die traumatischen Ereignisse während der Kindheit, aufgedeckt. Wer ist aber der Absender dieser beunruhigenden Videobänder? Wir wissen es nicht. Die Rätsel sind nicht gelöst, sondern nur auf eine andere Stelle verlegt. Sozusagen von der Erzählung heraus in den Zuschauer hinein. Und dort hören sie nicht auf, als Friedensstörer tätig zu sein, sondern fügen sich zu den vielen anderen unerledigten Geschäften und unbeantworteten Fragen, die wir im Leben herumtragen müssen.

Wenn Das weiße Band nach fast zweieinhalb Stunden zu Ende ist, drängen sich die Fragen auf: Was hat die Hebamme der Polizei zu erzählen, und wo sind sie, der Arzt und die Kinder geblieben? Was ist passiert?! Und der Lehrer, der die ganze Geschichte erzählt, wurde er je mit seiner Verlobten vereint?? Diese Abläufe bleiben ungeklärt. Wir müssen uns das selber überlegen. Den Regisseur zu fragen nützt nichts. Viele haben das schon versucht.

Seine Antwort lautet in der Regel ungefähr so: „Das weiß ich nicht“ oder: „Die Interpretation überlasse ich Ihnen“ oder: „Alle Fragen, die Interpretationen anbelangen, bitte nicht fragen.“ Vielleicht ist das überhaupt die grundlegende Art des künstlerischen Films, uns in Unklaren bleiben zu lassen. Es ist in dieser Unbestimmtheit, in der sich die Kunst entfaltet. Haneke ist zu keiner Interpretation bereit und er erliegt auch nicht der Versuchung, einigen Interpretationen zuzustimmen und andere abzulehnen. In diesem Sinne wird er übrigens von Thomas Mann bestätigt, der behauptet hat, „es ist ein Irrtum zu glauben, der Autor selbst sei der beste Kenner und Kommentator seines eigenen Werkes.“

Haneke thematisiert die Beschränkungen der Interpretation ganz direkt, wenn er in der ersten Szene von Code Inconnu ein kleines Mädchen vor ihren tauben Freunden mimen lässt. Die sollen raten, was sie ausdrückt, und schlagen jede Menge von Interpretationsmöglichkeiten vor, jedes Mal aber schüttelt sie den Kopf. Dafür kann man wohl sagen, dass Haneke, indem er sich vor jeder Interpretation seiner Filme bewahrt, gerade der akademischen Interpretationsindustrie zum Erfolg verhilft, die bis jetzt mit 12 bis 15 Büchern über sein Werk reagiert hat.

Insbesondere steht da Das weiße Band, das schon als Hauptwerk der modernen Filmkunst gilt, im Brennpunkt des Interesses. Der Film kann als Erforschung von Autorität als Machtfaktor und insbesondere vom Rebellieren gegen Autorität gesehen werden, wobei sich der Film zu literarischen Traditionen bekennt, sowohl im Gebrauch einer etwas altmodischen, sanftmütigen Erzählerstimme à la Thomas Manns Doktor Faustus als auch durch den archaisierenden Effekt der Schwarzweißfotografie. Der Film zeigt Ähnlichkeiten mit jenem Universum, in dem Der junge Törless in der Erzählung Musils und im Film Schlöndorffs furchterregende Erfahrungen mit dem Sadismus und die Bosheit in der Internatsschule machte. Das weiße Band kann auch im Anschluss an das Rebellieren gegen die Elternautorität, sowohl in der Fernsehproduktion Lemminge wie auch in Benny’s Video, in Code Inconnu und in La pianiste verstanden werden; aber das Thema ist auch in den Fernsehfassungen Hanekes von Kafkas Das Schloss präsent, in dem der Angereiste versucht, bei der Macht Gehör zu finden – sowie in der Fernsehfassung von Joseph Roths Die Rebellion, in der die Hauptperson „gegen die Welt, die Behörde, gegen die Regierung und gegen Gott“ kämpft, alles natürlich vergebens.

Viele Kritiker haben Das weiße Band als einen indirekten Kommentar zum Durchbruch des Nationalsozialismus sehen wollen, als eine Art „Entwicklungsgeschichte des Faschismus“, was Haneke allerdings als eine „etwas enge Lesart“ betrachtet und dabei betont, „es geht (…) nicht nur um den Faschismus, es geht mir um Menschen, die Normen, von denen sie unterdrückt werden, verabsolutieren, um sich ihnen so zu entziehen. Das hat nicht nur mit dem deutschen Faschismus zu tun, sondern mit jeder Form von Radikalisierung.“

In diesem Zusammenhang ist es aber interessant zu bemerken, dass die Buchausgabe des Manuskriptes tatsächlich die Faschismus-Interpretation teilweise unterstützt. Denn das Buch enthält nicht nur das Manuskript in einer dem endgültigen Film entsprechenden Fassung, sondern auch eine Faksimile-Wiedergabe mehrerer Seiten aus dem Storyboard Hanekes, aus dem hervorgeht, dass am Ende des Films ursprünglich ein expliziter Hinweis auf den Nationalsozialismus vorhanden war. Der Erzähler des Films, der jetzt alternde Mann – und junge Lehrer der Geschichte – spricht am Anfang von „den seltsamen Ereignissen … [die] möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können …“ Und am Ende erfahren wir die rätselhafte und lakonische Verlautbarung des Erzählers: „Ich habe niemanden aus dem Dorf wiedergesehen.“ In der Storyboard-Ausgabe sehen wir jedoch eine gestrichene Stelle, wo der Erzähler „einen zweiten Krieg, der die Welt noch grausamer und gründlicher verändern sollte als jener erste, welcher uns damals bevorstand,“ erwähnt, und er fragt sich, „wie weit die Ereignisse von damals nicht Vorboten jener Tragödie waren, die auf uns zukommen würde.“

Aber die Spuren dieser Interpretation wurden wieder gestrichen. Da ist es fast zu einer Erklärung gekommen – aber Haneke hat es doch nicht getan.

[Kopenhagen]
Lassen Sie mich hier zum Schluss – zur Gelegenheit passend – das Thema Haneke und Kopenhagen anschneiden. Es geht hier um eine Geschichte, von der Haneke in mehreren Interviews erzählt hat und auch selber geschrieben hat (im Essay Schrecken und Utopie der Form). Die Geschichte fängt an in Wien, wo der 6-jährige Haneke zum ersten Mal – mit seiner Tante – ein Kino besuchte um Laurence Oliviers Film Hamlet zu sehen, leider aber schon nach fünf Minuten das Kino verlassen musste, weil ihn Bilder und Musik geängstigt haben.

Kurz danach war er im Rahmen des ‚Hilfeprogramms für Kinder aus den Kriegsverliererstaaten‘ drei Monate „auf Erholung“ in Kopenhagen. Zwar hat er das selber unterschiedlich datiert, da aber der Film Hamlet Anfang Dezember 1948 in Wien Premiere hatte, darf vermutet werden, dass der Besuch von Haneke in Dänemark in den ersten Monaten des Jahres 1949 erfolgte, was auch von anderen Quellen bestätigt wird. Während seines Aufenthaltes in Kopenhagen wurde er sieben Jahre alt. Es war hier, dass er dann zum zweiten Mal im Kino war. Selber schreibt er: „Da habe ich mich verwirrt gefragt: Warum bin ich jetzt wieder hier?“

Diesmal hat ihn nichts geängstigt – stattdessen erlebt er das magische Potenzial des Filmmediums. Dazu Haneke: „Der Film, dessen Titel und Handlung ich vergessen habe, spielte in Afrikas Savanne und Urwald. (…) Schließlich war der Film zu Ende, das Licht im Saal ging an, die Türen auf die dämmerige Straße wurden geöffnet, draußen strömte der Regen, der Verkehrslärm drang hinein, die Leute spannten ihre Schirme auf und traten ins Freie. Für mich aber war es wie ein Schock: Ich begriff nicht, wie ich, der ich doch bis vor Sekunden noch in Afrika zwischen Tieren in der Sonne gewesen war, jetzt so schnell wieder hier sein konnte.“

Das Kino, das Haneke mit seiner dänischen Pflegefamilie besuchte, lässt sich als das DSB-Kino identifizieren, das damals von den dänischen Staatsbahnen betrieben wurde und im Hauptbahnhof Kopenhagen eingerichtet war (bis es 1971 in einen Supermarkt umgestaltet wurde). Der eigentliche Name des Kinos war Den vide Verden (Die weite Welt), und jeden Tag von 14 bis 22 Uhr wurden nonstop-Programme, überwiegend Wochenjournale und Reisefilme aus fremden Weltteilen, gezeigt.

Über das Repertoire haben wir keine genauen Auskünfte mehr, der Film aus Afrika bleibt somit leider unidentifiziert. Die Erlebnisse des kleinen Jungen scheinen dem Phänomen zu entsprechen, das vom deutschen Historiker Daniel Morat mit akademischer Stringenz beschrieben worden ist:

„Der archetypische Kinomoment ist der Augenblick zwischen Verlöschen der Saalbeleuchtung und Beginn der Kinowandprojektion. Dieser Augenblick des Dunkels und der Stille ist ein Moment des Übergangs, des Umschlags, in dem der reale Zuschauerraum vom aufbrechenden Bildraum überlagert und ausgefüllt wird. Die leibhafte Körperwelt wird zugunsten der virtuellen Bilderwelt zeitweilig aufgehoben. Das Ende der Vorführung ist zugleich eine Rückkehr aus diesen jenseitigen Bilderwelten.“

Es soll noch bemerkt werden, dass gleichzeitig mit dem ersten Kinomoment Michael Hanekes im Frühjahr 1949 eine andere, etwas ältere deutschsprachige Koryphäe in der Stadt zu Gast war, nämlich Thomas Mann, der die Universität Kopenhagen besuchte, wo er seinen Vortrag über Goethe und die Demokratie hielt. Und zwar hier in dem Saal, in dem wir uns jetzt befinden. Na – das war eine kleine Abschweifung.

Haneke besuchte in Kopenhagen das Kino und machte hier eine Entdeckung, die sowohl für sein eigenes Leben als auch für die europäische Filmkunst Folgen haben sollte. Vielleicht kann man es so sagen: Zunächst, als Kind, haben Filme Haneke geängstigt. Später hat er dann mit seinen eigenen Filmen uns alle geängstigt.

Von Kopenhagen gab es einen Weg – in die weite Welt.